Home
News
werke
biografie
kontakt
Blog
links
medien
aktionen
unterwegs
Claridenstrasse
Könnte es sein … |
zurück
back
|
ANSICHTEN VOM WISSEN UND WÜNSCHEN
Die Schweiz gehört zu den vielbebilderten Ansichtskartenländern. Ihre visuelle Identität verdankt sich einer grossen Rotationsmaschine der Illusionen. Aus den Bildern an den Drehständern setzt sich ein «Image» zusammen. So wenig dieses mit einer wirklicheren Realität zu tun haben mag, wird es gepflegt, weil es seinen Mann ernährt (zu ernähren verspricht). Aber auch gehegt, weil es unverzichtbar ist: Ansichtskarten sind Wunschbilder und Projektionsflächen, die über die mindere Realität hinwegtrösten können. Das Hotel ist schlecht, der Verkehr zerstört die Idylle, dafür ragt der Berggipfel umso steiler empor. Die Ansichtskarte führt uns vor, dass dies das Eigentliche, Wichtige ist. Sachte lässt sie das Negative ins Positive hinübergleiten. Das ist Lebenshilfe im A6-Format. Weil sie Idealität vorspiegelt, ist sie zugleich ein billiger Freud- und Neiderzeuger. Denn aus welcher Motivation heraus versenden wir eigentlich diese «Lebenszeichen»? Der Himmel über uns ist trüb, aber für den Briefkasten der anderen können wir den sprichwörtlichen Postkartenhimmel auswählen.
Ansichtskarten sind die bildgewordene Gewöhnung. Genau diese Klischeehaftigkeit macht sie für einen forschenden, neugierigen Blick aber wieder hoch interessant. Was für individuelle Fantasien lösen diese normierten Verheissungskondensate aus? Was für einen Text produzieren sie?
Diese Frage beschäftigt den Künstler Niklaus Lenherr, der seit langem Postkarten sammelt. Nun hat er Zsuzsanna Gahse und Klaus Merz zu einem Bilderlese-Experiment mit den im vorliegenden Band hervorgehobenen Ausschnitten aus Ansichtskarten eingeladen. Zugleich liegen die Postkartenausschnitte als Farbdrucke bei. Lenherrs Versuchsanordnung ist nicht nur ein Pingpongspiel zwischen Bild und Text, sondern auch zwischen Textautoren. Zehn Ausschnitte aus der Bilderbuchschweiz, aufgeteilt in zwei Fünfergruppen, wurden Zsuzsanna Gahse und Klaus Merz, die je auf ihre Weise hintersinnige, fein die Konventionen abschmirgelnde Beobachter des Alltags sind, als Ausgangsmaterial vorgelegt. Das Spiel ging so: Erst bekam Zsuzsanna Gahse fünf Bilder; die daraufhin entstandenen Texte samt den Bildern erhielt Klaus Merz zum Weiterspinnen, dann ging das Ganze an Gahse zurück. Mit dem zweiten Bilderset lief es gleichzeitig umgekehrt: Beginn bei Merz, Aufschlag bei Gahse, retour an Merz.
Aus Bildern wuchert Text hervor, aus Texten steigen Bilder auf, das ist, seit es Literatur gibt, ein ergiebiger Kreisverkehr. Die abendländische Kunst basiert zum grössten Teil auf Bildern, die in Texten, kanonischen Texten meist – von der Bibel über die griechischen Sagen bis zu Dantes Divina Commedia – ihren Stoff gefunden haben. Seit vielleicht zweihundert Jahren jedoch hat sich das Verhältnis zusehends umgekehrt: Immer weniger Bilder entstehen aufgrund von Texten (weil der Kanon zerbröckelt ist), immer mehr Texte entstehen ausgehend von Bildern, kommentieren und interpretieren sie. Und vollends verselbstständigt hat sich im zwanzigsten Jahrhundert der Text, der mit der Beschreibung von Bildern und insbesondere Fotografien arbeitet, ja ohne sie undenkbar wäre. Von Marcel Proust über Claude Simon zu W.G. Sebald, um nur einige Namen zu nennen, liesse sich die Geschichte der Literatur als die der bildgestützten Erinnerungsprozesse schreiben.
In klischeehaften Bildern, in Ansichtskarten zum Beispiel, ist viel vom kollektiven Wissen und Wünschen aufbewahrt. Davon wieder etwas herauszufiltern, auf je individuelle, sehr persönliche Weise, darum geht es auch in diesem Text-Bild-Spiel von Zsuzsanna Gahse und Klaus Merz.
Februar 2004
Barbara Basting
|